Lafontaines intellektueller Stillstand

In einem als "Sommerinterview" bezeichneten Gespräch der ARD-Journalisten Deppendorf und Becker mit Oskar Lafontaine vom 2.8.2009 äußerte sich letzterer zu einer über das Internet gestellten Zuschauerfrage zum "bedingungslosen Grundeinkommen" auf eine Weise, die einen erstaunlichen, erklärungsbedüftigen intellektuellen Stillstand offenbart.
Denn Lafontaine bemüht in seiner Antwort ein Argument, das auf einem platten Missverständnis des Grundeinkommensvorschlags beruht, zu dem er in einer Fernsehdiskussion Sandra Maischbergers vom 2.5.2006 aufgrund einer unglücklichen Ausdrucksweise Götz W. Werners gelangt ist. Schon damals konnte Lafontaine allerdings zu dem trivialen Missverständnis nur unter der Bedingung gelangen, dass er von maßgeblichen intellektuellen Positionen in der einschlägigen Grundeinkommensdiskussion so gut wie nichts wusste. Zwar war schon damals Lafontaines völlige Unkenntnis selbst von Grundzügen der Grundeinkommensdiskussion kein Ruhmesblatt, aber zumindest verständlich angesichts seiner zeitlichen Belastung als vielbeschäftigter Spitzenpolitiker und der Neuheit der erst 2005 anhebenden Diskussion (d.h. ihrer Renaissance, denn in den 1980er Jahren war der Vorschlag eigentlich schon einmal öffentlich in der Diskussion). In der Zwischenzeit hat sich allerdings die Lage grundlegend verändert. Seit 2005 wird immer intensiver und in allen Parteien über den Grundeinkommensvorschlag diskutiert. Die Diskussion nimmt weiter zu und nicht etwa ab. Ja, mittlerweile scheint die Grundeinkommensdiskussion an der Schwelle zu einer Massenbewegung zu stehen. Angesichts dessen und angesichts der Jahre, die diskutierend ins Land gegangen sind, ist es ein unglaublicher Tatbestand, dass bei einem so einflussreichen Politiker wie Lafontaine immer noch die trivialsten Missverständnisse des Grundeinkommensvorschlages vorherrschen, denen er schon vor drei Jahren, 2006, aufsass. Wie kann es sein, so ist zu fragen, dass Spitzenpolitiker wie Lafontaine - er ist sicherlich nicht der einzige - über Jahre hinweg intellektuell derart unberührt und unerreicht von einer breiten gesellschaftlichen Diskussion bleiben? Politiker sind keine Intellektuellen, so viel ist klar. Aber es muss doch zu denken geben, wenn sie geistig derart abgeschottet von grundlegenden gesellschaftlichen Diskussionsprozessen wie der jahrelangen Grundeinkommensdiskussion bleiben. Irgendetwas läuft hier offenkundig grundlegend schief.

Im Einzelnen: Die Passage des aktuellen Sommerinterviews, die Lafontaines intellektuellen Stillstand offenbart, lautet:
User-Frage 2: Was halten Sie vom bedingungslosen Grundeinkommen für alle als Lösung unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme? 
Lafontaine: Das ist eine Vision, der viele anhängen, dass sie sagen, wir wollen den Druck etwa der Hartz-IV-Empfänger wegnehmen. Wir wollen den Druck der Menschen, die für niedrige Löhne arbeiten, wegnehmen, indem wir allen ein Grundeinkommen garantieren. Das schafft mehr Freiheit. Das Problem ist nur, dass sich diese Forderung mit unserem Gesellschaftsvertrag nicht vereinbaren lässt. Unser Gesellschaftsvertrag ähnelt der einer Familie: Die, die krank sind, die zu alt sind, die zu schwach sind, die sollen nicht arbeiten. Aber die arbeiten können, die sollen dann auch arbeiten und zum Wohlstand beitragen. Und deshalb wird die Idee des Grundeinkommens für lange Zeit noch eine gute Idee bleiben, aber sie wird nicht realistisch sein. Ich habe also beispielsweise in einer Fernsehdiskussion einem der Vertreter die Frage gestellt: Soll das Grundeinkommen angerechnet werden oder nicht? Und da hat er gesagt, es soll selbstverständlich angerechnet werden. Dann habe ich gesagt, ja dann können Sie niemandem erklären, dass der Taxifahrer hier in dem Haus, der hat dann 1100 Euro und sein Nachbar hat auch 1100 Euro und der arbeitet nicht, der andere sitzt zwölf Stunden hinterm Bock, das geht nicht.
Quelle: Interview vom 2.8.2009 im Rahmen der Sendung "Bericht aus Berlin"

Bezeichnenderweise schweigt sich Lafontaine im ersten Absatz seiner Antwort über die Frage aus, ob es angesichts der Produktivitätsentwicklung und der Massenarbeitslosigkeit überhaupt noch einen Sinn ergibt, von allen im Sinne des von ihm zitierten "Gesellschaftsvertrags" Erwerbsarbeit zu verlangen, wie er es starrsinnig tut. Aber nicht nur darin argumentiert er auf eine Weise, als kenne er diese zentrale Begründung pro bedingungsloses Grundeinkommen überhaupt nicht. Er führt darüber hinaus auch eine Fernsehdiskussion an, bei der er einem trivialen Missverständnis aufgesessen ist. Bei dieser Fernsehdiskussion handelt es sich ganz offensichtlich um die ARD-Talkshow "Sandra Maischberger" vom 2.5.2006 mit Götz W. Werner, Lothar Späth, Oskar Lafontaine und weiteren Gästen.

In dieser Diskussion drückt sich Götz W. Werner unglücklich aus und spricht davon, das Grundeinkommen sei "substitutiv", womit er sich zudem im Rahmen eines etwas weltfremden Gedankenexperiments allein auf den zeitlichen Moment der Einführung des Grundeinkommens und unausgesprochen vor allem auch auf die spezifische Perspektive von Unternehmern bezieht, die sich überlegen müssen, welche Löhne und Gehälter sie angesichts der neuartigen Einkommenszusammensetzung dann fortan zahlen. Dies hat auch schon an anderer Stelle zu Diskussionen Anlass geben, und man muss Werner eine gewisse Mitverantwortung am Zustandekommen von Lafontaines Missverständnis sicherlich zusprechen. Aber trotzdem steht auch Lafontaine gewaltig auf dem Schlauch. Und das erstaunliche ist, dass sich daran bis heute nichts geändert hat und sich ein situatives Missverständnis bei Lafontaine jahrelang hält, was viel darüber sagt, wieviel sich Lafontaine über die kurzweilige, aber oberflächliche Fernsehtalkshow hinaus mit dem Grundeinkommensvorschlag in der Zwischenzeit auseinandergesetzt hat: offensichtlich so gut wie gar nicht. Oder, das wäre die zweite, weniger sparsame und für Lafontaine ebensowenig schmeichelhafte Möglichkeit: Er verbreitet bewusst irreführenden Unsinn über den Grundeinkommensvorschlag, weil ihm diesbezüglich echte Gegenargumente schlichtweg fehlen und er sich dagegen nicht auf redliche Weise zur Wehr zu setzen weiss.
Das Zustandekommen des Missverständnisses bei Lafontaine, der den Grundgedanken des nicht umsonst als "bedigungslos" bezeichneten Grundeinkommens offenkundig nicht verstanden hat, kann der Leser in der folgenden transkribierten Passage der Maischberger-Diskussion selbst nachvollziehen. Es ist zugleich ein Lehrstück darin, wie sehr sich Talkshow-Diskussionen nicht in den Dienst der Klärung einer Sache stellen, sondern die Konfusion mehren angesichts der auf lärmend-unterhaltsamen Schlagabtausch, vordergründig-situative rhetorische Selbstbehauptung und ähnliches, aber nicht auf Verständigung in der Sache, ausgerichteten Gesprächsführung.


Transkript:
Eckige Klammern [ ] markieren gleichzeitig Gesprochenes. Kursivdruck bedeutet "laut gesprochen". Das Rautezeichen # markiert Abbrüche. Runde Klammern enthalten einerseits kurze Zwischenrufe, andererseits bedeutet (.) eine merkliche kurze Redeunterbrechung.
LAFONTAINE:
würde mich gerne Ihre Meinung dazu mal interessieren wenn sie gestatten dass ich jetzt#
WERNER:
Ist gestattet hm (.) Herr Lafontaine da es jeder bekommt [und es keiner (LAFONTAINE: wie wird's verrechnet?)]
KRÜGER:
Es wird nicht verrechnet es wird abgezogen
WERNER:
Nein jeder kann dazu verdienen
MAISCHBERGER:
Jeder kann dazu verdienen
LAFONTAINE:
Sie haben aber gesagt
KRÜGER:
Aber es wird nicht abgezogen
WERNER:
Nein
LAFONTAINE:
Substituierend haben Sie vorher gesagt
WERNER:
Wenn es eingeführt wird is es substituierend
MAISCHBERGER:
Also um das noch zu klären (LAFONTAINE: Es soll nicht für alle) ich verdiene äh nehmen wir mal an ich verdiene in einer Arbeit zweitausendfünfhundert Euro jetzt wenn ich ihre tausendfünfhundert Euro bekomme von der Gemeinschaft verdiene ich insgesamt dann zweitausendfünfhundert plus [tausendfünfhundert (WERNER: nein)] oder wird es [angerechnet (LAFONTAINE: das ist aber entscheidend)]
WERNER:
[langsam (MAISCHBERGER: Voila)] sie verdienen zweitausendfünfhundert wie bisher (MAISCHBERGER: Ja) bekommen von der Gemeinschaft eintausendfünfhundert von ihrem Unter# von ihrem Arbeitgeber bekommen sie noch tausend damit ist ihre Arbeit subventioniert (MAISCHBERGER: Voila) und der kann ihnen noch [mehr bezahlen (MAISCHBERGER: das heißt)] aber dies nur in dem Moment der Umstellung aber das#
LAFONTAINE:
Das ist das Problem
WERNER:
Und damit haben
MAISCHBERGER:
Und wenn ich aber nicht arbeite kriege ich schon tausendfünfhundert aber das is dann so Herr Lafontaine dass wer arbeitet mehr verdient (WERNER: Richtig) als diese tausendfünfhundert
WERNER:
Also wenn man
LAFONTAINE:
Ja was is wenn einer tausendfünfhundert (.) verdient so das is der Fall also eines sage ich mal äh#
WERNER:
Dann würde in dem Fall äh
LAFONTAINE:
Er hat a also ein ein Arbeitsplatz (WERNER: Ja) er kriecht tausendfünfhundert (WERNER: Ja) und was is jetzt?
KRÜGER:
[Verdient (WERNER: Moment Moment)] die Kassiererin bei Ihnen an der Kasse
LAFONTAINE:
Was is dann? (ja ja) das is der Punkt den ich angesprochen habe
MAISCHBERGER:
Ja ich verstehe
WERNER:
Ja dann würde er Null bekommen
SPÄTH:
Und wie kriegen sie das#
WERNER:
Und dann dann muss ich mir aber als Arbeitgeber sagen wenn ich den Mitarbeiter halten will dann muss ich ihm was dazu geben
LAFONTAINE:
Ja gut ich wollte nur
SPÄTH:
Verdienen Sie wie viel verdienen Sie?
LAFONTAINE:
Ich wollte nur aufs Problem also nicht dass ich jetzt so irgendwie da polemisch zur Seite wischen [will (MAISCHBERGER: Um auf den Punkt zu bringen)] aber#
MAISCHBERGER:
Sie glauben dass äh Herr Werner keine Kassiererin mehr finden würde die arbeitet weil sie auch für das Geld nicht arbeiten [müsste (LAFONTAINE: er hat ja)]
LAFONTAINE:
Schon gesagt für das Geld Null also äh für Null in seinem System würde würde er dann keinen finden aber oder kaum noch jemand finden das is die Frage die ich vorher eingeführt habe wie will man einer Kassiererin oder einem Taxifahrer wenn immer sie wollen wie will man sagen du arbeitest und kriegst fünfzehnhundert Euro und der Nachbar der arbeitet nicht jetzt in unserem Klassischen Begriffssystem und du kriegst auch fünfzehnhundert Euro

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